23. September 2021; Ergänzung zum Rundbrief vom Mai 2021

Liebe Alle,

im letzten Rundbrief wurde die kleine Aira vorgestellt, die dringend eine Herzoperation benötigt. Leider fand sich über Wochen trotz vielfacher Suche weder in Nigeria noch in Ghana die Möglichkeit, diesen Eingriff durchzuführen. 

Auf Initiative einer sehr rührigen Frau, die sich mit Olileanya verbunden fühlt, wurde Kontakt aufgenommen zu der Stiftung "Ein Herz für Kinder", die sich bereit erklärte, die Kosten für die Operation zu übernehmen. Von dort kamen auch wertvolle Hinweise, wo ich eventuell auch noch nachfragen könnte, schließlich landeten wir in einer Klinik in Istanbul. 

Nachdem die zeitaufwendige Hürde der Erteilung von Visa für Mutter und Kind überwunden worden war, konnte Aira am 19.9. in die Türkei reisen. Die Eltern sind über die große Unterstützung - wir konnten noch ein wenig Geld für den Flug sammeln - überwältigt und bedanken sich herzlich bei allen Beteiligten. Wir werden Aira und das Team der Klinik mit unseren Gedanken und Gebeten begleiten. Es ist bewegend, mit wie viel Zuwendung Aira in der Klinik aufgenommen wurde. 


Bild links: Vorbereitung auf die Operation
Bild rechts: Liebe ohne Grenzen


Heute, am 23.09.2021 gegen 13 Uhr kam eine Sprachnachricht mit der Stimme des Operateurs: der Eingriff ist erfolgreich ausgeführt worden. Der Arzt ist sehr optimistisch.


Afam - Emmanuel

Zu meiner großen Freude fand sich ein Paten-Ehepaar, das die Kosten für die 3mal wöchentlich stattfindende Physiotherapie bei Afam Nwatu übernimmt. Von unserer Seite werden die Schulgebühren für Emmanuel bezahlt, der im kommenden Schuljahr in eine weiterführende Schule wechselt. Dadurch kann ich mich auch in diesem Fall zurücklehnen. Mein Dank geht an den Bodensee und nach Emene an das Team Afam - Emmanuel, das mit viel Energie und Freude daran arbeitet, aus der über viele Jahre hinweg bestehenden Talsohle der Isolation herauszukommen.

Bild: Afam und Emmanuel im September 2021







Rundbrief vom Mai 2021        

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
liebe Unterstützerinnen und Unterstützer von Olileanya,

liebe alle, die uns entweder ganz gezielt aufrufen oder aus Versehen auf der Suche nach irgendwas über unsere Website stolpern und – glücklicherweise – darin hängen bleiben. Und bitte – bleiben Sie bis zum Schluss dieses Briefes, auch wenn er auf weite Strecken keine einfache Kost ist. Die Zeiten sind keine einfachen... Aber zumindest der Auftakt soll positiv sein:

Haus „Nno“

Das bewegendste Ereignis in Sachen Patenschaften fand statt im Zusammenhang mit Little Promise, unserem Sonnenschein. Seine Geschichte hat eine Gruppe von Exil-Nigerianern im Nordwesten von Deutschland zu einer beeindruckenden Aktion motiviert: Eine Kirchengemeinde in Nordrhein-Westfalen, deren Pastor aus Enugu State stammt, hat die Patenschaft für den Hüpfer übernommen. So wurde es möglich, dass alle Mitglieder dieser Initiative den monatlichen Betrag entrichten, den sie aufbringen können. Das heißt für mich Solidarität, weit weg von der Heimat. Ich bedanke mich von Herzen für diese Bereitschaft, und auch dafür, dass die Akteure damit einverstanden sind, hier im Rundbrief aufzutreten.

Bild 1, Patengruppe


Bilder der umfassenden Renovierungsarbeiten seit Januar 2021

Seit Anfang Januar 2021 sind wir ununterbrochen mit Sanierungs- und Renovierungsarbeiten beschäftigt. Der größte Teil davon ist von langer Hand geplant, wurde jedoch in Ermangelung finanzieller Kapazitäten immer wieder zurückgestellt. Er beinhaltet in erster Linie den Schutz der Außenfassade vor den schweren Stürmen während der Regenzeit. Diese wurde nun mit Fliesen verkleidet und mit einem Zementsockel versehen. Eine Drainage wie in Deutschland üblich ist hier nicht bekannt, weshalb wir uns auf das ortsübliche Verfahren einigten. Die Ergebnisse der nächsten Jahre werden zeigen, ob es die richtige Entscheidung war.

Gleichzeitig bekamen alle Türen des Hauses einen farbigen Anstrich. Das Haus mausert sich mehr und mehr zu einer Villa Kunterbunt.

Außenfassade, Regenschutz 











Türen – aus Braun wird Bunt



Im letzten Rundbrief äußerte ich zuversichtlich, dass unser Raummangel bald in einer Lösung münden würde. Diese Hoffnung hat sich zu meiner großen Enttäuschung in Luft aufgelöst. Unsere Nachbarin war im Herbst 2020 verstorben und ihre Kinder waren bereit gewesen, das leerstehende Haus an uns zu vermieten, wodurch wir fünf Räume mehr zur Verfügung gehabt hätten. Und zu meiner großen Begeisterung hätten wir die trennende Mauer zwischen den beiden Grundstücken wenigstens teilweise einreißen können. Das Tüpfelchen auf dem I aber war die großzügige Freifläche, die den Kindern endlich mehr Platz zum Spielen geschenkt hätte. Sozusagen in letzten Minute wurde die noch nicht vertraglich abgeschlossene Vereinbarung ohne weitere Angabe von Gründen zurückgezogen. Ich habe einige Zeit gebraucht, um diese Niederlage zu verkraften. 

Mittlerweile zeichnet sich eine andere Lösung ab. Auf der Rückseite unseres Hauses wurde ein Grundstück zum Verkauf angeboten und wir haben die Kongregation der Daughters of Divine Love angefragt, ob sie an unserer Stelle diesen Platz kaufen möchten. OLILEANYA kann die Kosten hierfür nicht aufbringen. Wenn dem Verkäufer ein Interesse von unserer Seite bekannt wäre, würde sich der Preis in Windeseile verdoppeln. Ich bin gespannt, ob diese Chance umgesetzt werden kann.

Scheitern eines Traumes

Bild unseres Nachbarhauses

Grundsätzlich werden die täglichen Anforderungen immer höher, in jeder Hinsicht. So würden wir dringend einen neuen Bus benötigen, um die 15 Kinder täglich in die Schule und zurück zu transportieren - Okwudili und Iruoma müssen nicht mehr kutschiert werden, sie machen ja beide eine Schneiderlehre. Aber dennoch ist der Bus mit seinen 9 Sitzen "eben voll", jedes große Kind hat ein jüngeres auf dem Schoß, und die ganz Kleinen werden dann nochmal obendrauf gepackt. Nur der Fahrer hat seinen eigenen Sitz! Fazit: Der Olileanya-Bus ist mittlerweile direkte Konkurrenz des Public Transports. Nur ist bei uns die Stimmung besser. Die Anschaffung scheitert aber konkret an den nicht vorhandenen, hierfür erforderlichen finanziellen Mitteln. Aber irgendwie haben wir es bisher immer noch geschafft, der Fahrer muss halt sehr, sehr langsam tun. Eine Erleichterung haben wir: Es wurde ab dem Lepra-Camp bis zu dem Stadtteil, in dem sich die Schule befindet, eine neue Straße gebaut, die für den Schwerverkehr gesperrt ist. Das beruhigt mich sehr und schließt viele Gefahrenherde aus.

Und ein weiterer, zaghafter Hoffnungsschein am Horizont ist seit Mitte April sichtbar. Von einem hochrangigen Geistlichen, der abwechselnd in Österreich, der Schweiz und Enugu lebt, wurde mir die Organisation eines Toyota-Busses mit 18 Sitzen für Juni oder Juli 2021 in Aussicht gestellt. Ich wäre sehr glücklich, wenn diese Ankündigung wahr würde.

Foto der aktuellen Situation im Bus: Little Prtomise auf Chiadi auf Izuchukwu and so on




Gesundheit

In den letzten Tagen wurde das Covid-10-Thema wiederbelebt, nachdem wir über lange Monate hinweg im Dornröschenschlaf verharrt waren. Vor drei Wochen wurden die ersten Fälle der Indien-Variante in Nigeria bekannt, weshalb die Regierung die Phase 4 eines erneuten nigerianischen Lockdowns in Kraft setzte. Die darin enthaltenen Beschränkungen sind äußerst schwammig und drehen sich in erster Linie um die Reisefreiheit im Flugverkehr, es wird auch empfohlen, sich nachts nach Möglichkeit zu Hause aufzuhalten. Dies ist jedoch seit Monaten ohnehin Realität wegen der grundsätzlich kritischen Sicherheitslage im Land.

Der Pfizer-Impfstoff, hergestellt in Indien, wurde ab März 2021 in geringer Verfügbarkeit offiziell zunächst an Angestellte im Gesundheitswesen verabreicht. Im Annunciation Hospital wurde diese Möglichkeit nur reduziert in Anspruch genommen, die Termine wurden auch nicht groß publik gemacht. Ich persönlich habe jeweils erst im Nachhinein davon erfahren.


HIV

Vor ein paar Tagen erreichte mich aus Deutschland die Information, dass es dort seit Mai die Möglichkeit gibt, sich die Medikation in Form von Depot-Spritzen verabreichen zu lassen. Wenn die Voraussetzungen gegeben seien, könne somit in Intervallen von 4 – 6 Wochen diese Therapieform gewählt werden. 

Bei solchen Meldungen werde ich immer schmerzlich daran erinnert, dass wir nahezu durchgehend den Ergebnissen der Wissenschaft und ihren Möglichkeiten weit hinterherhinken, und zwar in nahezu allen Bereichen. Ich wünsche mir solche Chancen auch für unsere Kinder, die aufgrund ihres jungen Alters den Nebenwirkungen der antiretroviralen Präparate weit mehr ausgesetzt sind als Erwachsene. Ihr Personenkreis wird von der Forschung nur extrem vernachlässigt wahrgenommen, weil es z.B. lt. Robert Koch-Institut in Deutschland aus dem Jahr 2018geschätzt im Jahr lediglich 200 Kinder unter 15 Jahren gibt, die an dieser Krankheit leiden – in Nigeria sind es viele, viele tausend, die Dunkelziffer ist sehr hoch. Die Diagnose wird häufig erst Jahre nach dem Ausbruch gestellt, wenn die Kinder bereits schwer krank sind und endlich einem Arzt vorgestellt werden, oder wenn – wie bei unserem kleinen Promise – bereits beide Elternteile verstorben sind und durch die Verwandten nach einer alternativen Versorgung gesucht wird. Ebenfalls im Jahr 2018 wurde über einen amerikanischen Rundfunksender publiziert, dass Nigeria die meisten HIV-positiven Kinder weltweit hat (siehe Link). An dieser Situation wird sich vermutlich so schnell nichts ändern.

Link hiv-positiver Kinder in Nigeria


Augenzentrum Dr. Eckert, Nigeria / Annunciation Specialist Hospital:

Die Entwicklung des Neubaus verläuft nach wie vor ausgesprochen frustrierend. Seit fast zwei Jahren sind alle Arbeiten stillgelegt. Das ist um so trauriger, als der Bedarf riesig ist, und zwar in immer neuen Variationen. Im Rahmen unserer Bauarbeiten wurde ein junger Mann vorstellig, der durch ein Unfallereignis sein rechtes Auge verloren hat. Er hatte mit einer elektrischen Säge gearbeitet und Holz zurechtgeschnitten, als sich ein Splitter löste und das rechte Auge zerstörte. Die Augenhöhle wurde gelassen wie gehabt, weiterführende Maßnahmen fanden nicht statt. Inzwischen bestreitet Sunday seinen Lebensunterhalt durch die Herstellung von Stuckarbeiten an Gebäuden. Dabei fliegen keine Holzsplitter mehr durch die Gegend, stattdessen ist die ungeschützte Augenhöhle Sand und Zementstaub ausgesetzt. Er besitzt zwar eine Sonnenbrille, wird jedoch bei großer Hitze und Arbeit im Freien durch diese stark beeinträchtigt. Der Schweiß läuft in die Augenhöhle, die Brille beschlägt sich. In der Zeit, in der er hier am Haus arbeitete, habe ich ihn vielfach auf die Nutzung der Brille hingewiesen, verstehe aber auch, wie sehr sie ihn stört.

Bilder von Sunday



Eine Freundin in Deutschland bemüht sich nun, im Kontakt mit einem Augenarzt eine Lösung für das Problem zu finden. Früher oder später wird sich die leere Höhle entzünden, mit nicht vorhersehbaren Folgen für seine Gesundheit.

Mein Hoffnungsschimmer, die im Januar vorgestellte Organisation BINA FOUNDATION, kümmert als kleines Flämmchen vor sich hin. Die Initiatorin der NGO hat die Arbeit nach dem corona-bedingten Lockdown nicht mehr aufnehmen lassen. Geplant war ein Wiedereinstieg für den 15.02., passiert ist nichts. Ich versuche, mit der Dame in Kontakt zu kommen und ihr die dringende Notwendigkeit einer Fortführung klarzumachen. Chika, unser Glaukom-Patient, befindet sich immer noch in Warteposition.

Hoffentlich kann ich wegen einer Fertigstellung des neuen Gebäudes, der Außenanlagen und der Möblierung im laufenden Jahr Sponsoren innerhalb und außerhalb Nigerias auftun. Ich wehre mich dagegen, durch das Virus keine weiteren Planungen vorzunehmen.

Die IBAN des Augenklinik-Kontos lautet DE60642901200056955022,
BIC GENODESIVRW
Beim Verwendungszweck sollte angegeben werden, ob er der medizinischen Versorgung oder dem Neubau zugedacht ist.


Gladys  

Die Situation der drei Kinder, die nach dem Tod von Gladys ohne Mutter zurückblieben, ist bedrückend. Die 12jährige Blessing steht am frühen Morgen auf, bereitet das Frühstück für sich und ihre beiden Brüder, geht dann zur Schule. Wenn diese um 14.00 Uhr endet, muss sie sich beeilen, um zur Erledigung der anstehenden Hausarbeiten so schnell wie möglich nach Hause zu kommen (Einkaufen, Putzen, Waschen, Kochen der abendlichen Hauptmahlzeit etc.). Auf Nachfrage gibt sie an, dass sie eigentlich nie genug Zeit zum Bewältigen der Hausaufgaben und zum Lernen hat. Der Vater kommt meist erst spät am Abend von der Arbeit nach Hause, vorausgesetzt, dass er für den Tag eine solche finden konnte. Trauerarbeit und Trost für die Kinder? Fehlanzeige. Aufgrund des fehlenden Platzes können wir die Geschwister nicht aufnehmen – es ist ein ewiger Kreislauf des Elends.


Was würde ich machen, wenn es zum Ausgleich nicht die Lepra-Station gäbe...

Das bisherige Lepra-Camp hat einen neuen Namen erhalten: Es heißt jetzt „Zentrum für Menschen mit Behinderung“ unter der Obhut der Marist-Brothers. Falls mich jemand vor Gestaltung der neuen Eingangstafel nach meiner Meinung gefragt hätte, hätte ich einen anderen Vorschlag gemacht. In Nigeria legt man aber auf Feinheiten in der Sprache keinen gesteigerten Wert. Ich kann ja schon froh sein, wenn man sie nicht als „Krüppel“ bezeichnet.

Bild: Neues Schild für die Einrichtung der Marist Brothers


Die Marist-Brothers hatten ihre Einrichtung umbenannt, weil immer weniger Bewohner an den Folgen von Lepra leiden. Mittlerweile sind nur noch vier Personen direkt betroffen. Übrig geblieben sind gesunde Angehörige oder Menschen mit anderen gesundheitlichen Herausforderungen: Es gibt u.a. eine blinde Frau, deren verstorbener Ehemann Lepra hatte, und einen psychisch kranken jungen Mann, dessen Mutter an Lepra starb.

Über solche sprachlichen Ausrutscher kann ich aber sehr entspannt hinwegsehen. Tatsache ist, dass es mir unmittelbar nach Betreten des Geländes gut geht. Die Bewohner freuen sich. Eines der größeren Kinder rennt zu einer in einem Mango-Baum hängenden Autofelge und kündigt uns an, indem es mit einem Metallstock auf die Felge schlägt. Und dann kommen diejenigen, die den Doktor konsultieren wollen, mehr oder weniger schlendernd, aber niemals eilig, in die Halle, in der die Sprechstunde stattfindet. „Father“ Abraham ist immer der Erste. Mittlerweile sind die Beschwerden bekannt, es gibt in der Regel keine größeren Überraschungen…

- bis im Dezember 2020 ein kleiner Junge ankündigte, sein Onkel wolle den Doktor sehen. Er könne aber nicht selbst kommen, man solle ihn bitte in seinem Zimmer aufsuchen. Wir haben einen Mann angetroffen, der seit 20 Jahren nach einem tätlichen Angriff durch eine Gruppe randalierender Männer querschnittsgelähmt ist. Mittlerweile ist Afam 40 Jahre alt. Nach der Prügelei war er fast zwei Jahre in stationärer Behandlung resp. zur Reha-Behandlung in der orthopädischen Klinik in Enugu, dort bekam er Physiotherapie. Zum Schluss konnten die Angehörigen die Kosten nicht mehr aufbringen und Afam wurde entlassen. Seither lebt er in einem Raum der Einrichtung der Marist-Brothers, bis Januar 2021 ohne ärztliche Begleitung, ohne Physiotherapie, nahezu ohne Mobilisierung. Dann endlich konnte er sich dazu durchringen, nach dem Arzt zu fragen, der alle vier Wochen kommt. Wir erfuhren, dass Emanuel, der 12jährige Junge, aus einem Dorf geholt worden sei, um Afam zu helfen. Er erledigt kleine Besorgungen, leert die Urinflasche, kocht und wäscht und hält den Raum sauber. Ich muss nicht betonen, dass es die sauberste Wohnung im gesamten Camp ist. Im Gegenzug hat Emanuel eine Unterkunft, Nahrung und Zugang zu Schulbildung.Weiter wird Afam von seinem Bruder betreut, der mit Emanuel das zweite Zimmer des kleinen Apartments bewohnt. Er kommt für alle Kosten auf, setzt seinen Bruder abends in den Rollstuhl und Emanuel schiebt ihn zum „Duschen“ in ein kleines, separates Gebäude.

Ich war nach dem ersten Gespräch einfach fassungslos. Afam ist geistig sehr, sehr rege, interessiert an allem. Trotz des sehr reduzierten Kontakts von außerhalb weiß er sich zu beschäftigen. Er ruht in sich, ist niemals verbittert, immer ausgeglichen und freundlich. Er erlaubte mir, seine Geschichte zu erzählen, und als ich ihn gefragt habe, woher er diese Kraft und diese unerschütterliche Haltung nehme, führte er seinen Glauben an. Er sei sich von jeher sicher gewesen, dass dieses Zimmer und diese Matratze nicht das Ende seines Lebensweges seien. Schade nur, dass er nicht bereits vor zwei Jahren um Doc Obinnas Besuch gebeten hatte. Aber auch das ist für uns in Ordnung – alles hat seine Zeit. Eine Sache muss noch erwähnt werden: Afam ist trotz der langen Liegezeit nirgendwo aufgelegen. Er kann sich eigenständig vom Rücken auf die Seite und auf den Bauch drehen, macht dies eigenständig über den Tag hinweg.

Doc Obinna und ich werden Afam einer Physiotherapie im Krankenhaus zuführen. Ein Gespräch mit dem Therapeuten fand bereits statt, auch er ist von Afams Ausstrahlung tief beeindruckt und sehr zuversichtlich, dass trotz der langen Therapiepause noch Teile der Arme und Hände auftrainiert werden können. Und dann kommt hoffentlich Bina-Foundation ins Spiel. Dort gibt es einen Fahrdienst, der Menschen von zu Hause abholt und in die Werkstatt bringt. Es wird viel Einsatz seitens Afams erfordern und Mut, nach 18 Jahren der Isolation in einem Raum bzw. der Begrenzung auf das Gelände der Einrichtung der Außenwelt wieder zu begegnen. Aber er ist hochmotiviert und freut sich sehr auf sein „neues“ Leben.

Bild: Afam N.



Eine weitere Quelle der Freude ist uns der bereits mehrfach erwähnte Antony. Nachdem er sich über lange Zeit hinweg strikt weigerte, sich aufrecht auf seinen beiden Beinen fortzubewegen, ist er seit ein paar Wochen Hans Dampf in allen Gassen.


Antony und seine Hochgeschwindigkeits-Radelrutsch (schwäbisch für Roller), äußerst geländetauglich, durch den Verlust der beiden hinteren Räder stylisch tiefer gelegt. Dr. Obinna und ich werden ihm zu seinem Geburtstag Ende Juni ein neues, dreirädriges Gefährt spenden. Eventuell wird er dennoch auf seinen Oldtimer zurückgreifen.

Seine Frau Mama war begeistert, wie fotogen ihr Jüngster ist. Ich wiederum bin begeistert, wie stabil ihr Blutdruck eingestellt ist. Dr. Obinna ist begeistert, wie positiv sein Service angenommen wird und wie zuverlässig seine PatientInnen ihre Medikamente einnehmen.

Ein kurzer Hinweis auf Ihrer Überweisung genügt, wenn Sie diesen „Geschäftszweig“ von Olileanya im Allgemeinen und die künftige physiotherapeutische Behandlung von Afam im Besonderen unterstützen möchten.

Allgemeine Lage in Enugu State

Im Herbst letzten Jahres erschütterte die #EndSars-Bewegung große Teile des Landes. Von dieser Situation haben wir uns bis heute nicht erholt. Wenn bis dahin Unruhen überwiegend Boko Haram, den Fulani und Herdsmen zugeschrieben wurden, kann mittlerweile nichts mehr einer konkreten Gruppe zugeordnet werden. Jeder lebt seine Unzufriedenheit aus, oftmals in aggressiven Durchbrüchen. Selbst Chioma und ich sind um Haaresbreite aus einer solchen Schießerei herausgekommen, als wir wie schon seit Jahren Mangos für Marmelade einkaufen wollten. Gründe für solche aus dem Nichts hochkochenden Scharmützel gibt es genug: Man ist unzufrieden mit der Grenzziehung jeweiliger Grundstücke und geht aus diesem Grund mit Gewehren und Macheten aufeinander los. Man ist unzufrieden mit der ungezügelten Teuerung im Land, grundsätzlich mit dem Vorgehen der Staatsmacht in Abuja. Polizeistationen werden in Brand gesetzt, Polizisten als Vertreter des Regimes getötet. Viele Polizeiposten sind verlassen. Enugu „brannte“ vor 4 Wochen über mehrere Tage hinweg, als die Armee einen Markt mit Gewalt an den Eigentümer zurückgeben sollte, während die Haussa als bisherige Nutzer des Geländes gegen diese Aktion Sturm liefen. Der Governor reagierte, indem er seinen Regierungssitz bis heute weitläufig mit Barrikaden abriegelte und offiziell vermeldete, dies sei eine private Angelegenheit, er habe die Armee nicht in Gang gesetzt. Eventuell traut er dem von ihm geprägten Slogan „Enugu is in the hands of God“ nicht mehr so richtig. Am schwierigsten für die einkommensschwachen Familien ist jedoch, dass Preise in kürzester Zeit zum Teil um das Zehnfache in die Höhe schnellen. Ob Nahrungsmittel, Getränke, Benzin, Kochgas, Transportkosten – niemand weiß, was er morgen für seinen Einkauf bezahlen muss.

Im Jahr 2021 werden wir – ungeachtet aller Hiobsbotschaften – ein großes Fest feiern:

Olileanya wird 10 Jahre alt!

Ich bin sehr dankbar dafür, wie gut es das Schicksal / höhere Mächte in den vergangenen zehn Jahren mit uns gemeint haben. Die Initiative hat sich in weit größerem Umfang positiv entwickelt, als es ursprünglich zu erwarten war. Es gab viele Turbulenzen, mit denen ich nie gerechnet hatte, gemäß der Regel: Hinterher ist man immer gescheiter. Und diesen Turbulenzen werden wir mit großer Zuverlässigkeit auch in Zukunft begegnen. Nigeria ist keine Hängematte, in der man es sich bequem machen kann – allerdings gilt auch, dass was uns an Nachrichten aus Europa erreicht, in hohem Maße Anlass zu Besorgnis gibt, und es ist kaum zu hoffen, dass sie konstruktive Lösungsansätze beinhalten.

Deshalb sind wir gut beraten, mit unseren begrenzten Möglichkeiten im Einvernehmen mit Schule, Krankenhaus und Hilfebedürftigen Pläne im Rahmen des Machbaren umzusetzen.

Dabei finde ich es sehr angenehm, dass wir keinerlei Vorschriften zu beachten haben. Es gibt keine entsprechenden Prüforgane, keine Richtlinien, keine auszufüllenden Anträge, die dann doch abgelehnt würden. Feine Sache.

Sowohl die Geschichte von Afam als auch der neue Patient für die Augenklinik machen klar, dass ich beileibe nicht ständig auf der Suche nach Hilfebedürftigen unterwegs bin und auch nicht „die ganze Welt“ retten will. Die Menschen, die Unterstützung benötigen, fallen uns buchstäblich vor die Füße, was den enormen Bedarf selbst in unserem kleinen Umfeld deutlich macht.

Die beiden letzten Sätze wurden am 14.05. geschrieben - was dann kam, zwei Tage später, war nicht vorhersehbar. In tragischer Weise tritt überdeutlich zutage, wie groß die Not ist und wie vielfältig die Probleme sind.
Am 15.05.2021 kam ein guter, alter Bekannter, vor vielen, vielen Jahren aus Deutschland nach Nigeria zurückgekehrt, bereits am frühen Morgen zu mir. Vor knapp sechs Monaten wurde sein drittes Kind, ein Mädchen, geboren, Eltern und zwei ältere Geschwister waren glücklich. Nach wenigen Monaten fiel den Eltern auf, dass die Kleine sich nicht normal entwickelte. Es folgte eine Reise von Arzt zu Arzt, von Krankenhaus zu Krankenhaus, was alleine schon viel Zeit in Anspruch nahm. Letztendlich steht seit dem 15.04.2021 fest, dass Airaluchukwu einen schweren Herzfehler hat und so schnell wie möglich operiert werden muss. Der Vater suchte in den letzten vier Wochen nach Möglichkeiten – erfolglos – und saß gestern Vormittag hilf- und mutlos bei mir am Tisch. Auch wenn er nicht arm ist, kann er eine komplizierte Herzoperation im Ausland nicht finanzieren, weder in Indien noch sonst wo. Nigeria hat verschwindend wenig Fachärzte, die eine solche OP durchführen können. Wer sich ein entsprechendes Wissen angeeignet hat, geht ins Ausland. Corona schiebt Flügen im Moment grundsätzlich einen Riegel vor, von dort kommen auch keine Ärzte mehr nach Nigeria, um einzuspringen. Die Eltern sitzen vor ihrem Kind und schauen ihm beim Sterben zu, weil die früher bestehenden Hilfsmöglichkeiten wegen der Pandemie nicht greifen. Es ist eine Katastrophe. Airaluchukwu wiegt mit einem halben Jahr gerade mal vier Kilo – dieses Gewicht brachte meine zweite Tochter bei der Geburt auf die Waage. Aber vielleicht passiert ja doch noch ein Wunder, vielleicht fällt doch noch jemandem eine Lösung ein. Ich streue auf jeden Fall die Information so weit wie möglich.

Wiederum zwei Tage später:
Mittlerweile habe ich das Olileanya-Netzwerk angezapft, das glücklicherweise sehr zuverlässig und stabil ist. Es sind z.T. Ärztinnen, die eventuell wiederum jemand kennen, der auf dem Fachgebiet der Herzchirurgie tätig ist.

Eine andere Freundin fragte die Organisation „Ein Herz für Kinder“ wegen einer Finanzierung der OP an. Von dort kam zu meiner großen Freude bereits am nächsten Tag eine grundsätzliche Bereitschaft, einzuspringen, nach Klärung von Einzelheiten entweder teilweise oder in vollem Umfang. Operationen dieser Art können nur von sehr reichen Menschen in Nigeria bezahlt werden – die Eltern der kleinen Airaluchukwu gehören nicht zu diesem Personenkreis. Und neben all dem überschattet wie eine riesige Wolke der enorme Zeitdruck die Familie.

Heute, am 20.05.2021, stehe ich seit vor 7.00 Uhr Ortszeit in wechselndem Kontakt mit Menschen in Deutschland, der Organisation „ein Herz für Kinder“, einer Freundin, die im Flieger auf dem Weg nach Nigeria ist, den Eltern von Aira, und anderen beteiligten Personen. Mittlerweile haben wir zahlreiche wertvolle Informationen bekommen, die über die Schweiz bis nach Tansania reichen. Frau Sch. von „Ein Herz für Kinder“ ist in außerordentlich engagiertem Maße bei der Arbeit. Seit dem späten Vormittag hat sie die gesamte Koordination übernommen, was extrem entlastend ist. So können alle Fäden effizient in einer Hand zusammenlaufen.

Ich hoffe sehr, einen erfolgreichen Abschluss dieses Dramas verkünden zu können.

Angesichts all der täglich auftretenden Probleme verschiedenster Art geht mir ein Motto von Ruth Pfau, Lepraärztin in Pakistan, durch den Kopf, das mir vor wenigen Tagen von einer Freundin aus Deutschland als Durchhalteparole zuging: :

"Manchmal macht es keinen Sinn weiterzumachen, aber noch weniger Sinn macht es, aufzuhören. 

Also mache ich weiter!"

Link zu Ruth Pfau, Lepraärztin in Pakistan

Oder etwas kürzer formuliert auf einer Karte, die ich ebenfalls von einer Freundin aus Rottweil bekommen habe:


Es lohnt sich also in nächster Zeit durchaus, ab und zu mal bei uns vorbeizuschauen, um sich über die Ergebnisse unserer zahlreichen offenen Probleme zu informieren und um sich mit uns über die Verwandlung des Hauses im Rahmen der großangelegten Pinselarbeiten vom hässlichen Entlein zum stolzen Schwan zu freuen. Ich werde über grundlegende Ergebnisse – seien sie erfolgreich und traurig – berichten.

Bitte, begleiten Sie / begleitet uns weiter. Bei all diesen Problemen, die tagtäglich neben dem „normalen“ Leben auf uns einstürzen, benötige ich in erster Linie Ermutigung. Davon kann ich gar nicht genug kriegen. Ich nehme dankbar den „Spirit“ war, der zuweilen auf unser Grundstück niederrieselt. Vielen Dank dafür, und gleichermaßen für alle materiellen Güter.

Bleibt behütet – ihr habt es auch nicht leicht. Gabi Ayivi

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Weitere Links:

1. ZEIT Online: Europa erzeugt die Flüchtlinge selbst

2. N-TV.de: Einer Mahlzeit wird für viele unbezahlbar

3. Zur ganz aktuellen Situation in Nigeria:
   Angry residents block Kaduna-Abuja highway as they protest incessant kidnappings in the area


Geplante Termine im Jahre 2021:

03.07.2021, BruderhausDiakonie „Poche“ in Fluorn-Winzeln
Hof-Flohmarkt, Informations-Stand OLILEANYA

Deutschland-Aufenthalt
Noch ist vorsichtig geplant, dass ich ab September 2021 für 2 Monate nach Deutschland komme.

Alle Vorhaben sind abhängig von der weiteren Entwicklung der Pandemie . Sie werden zu gegebener Zeit mit konkreten Daten bestätigt oder abgesagt.


Emene, Mai 2021


Und hier geht´s zum FOTOALBUM zum Rundbrief vom Mai 2021






Rundbrief vom Januar 2021        

Liebe Freundinnen, liebe Freunde, liebe Unterstützerinnen und Unterstützer von Olileanya, liebe alle, die uns entweder ganz gezielt aufrufen oder aus Versehen auf der Suche nach irgendwas über unsere Website stolpern und – glücklicherweise – darin hängen bleiben. 

Ein Bericht über den wilden Südosten Nigerias ist längst überfällig, ich weiß. Und ich bin sehr zerknirscht, dass ich wegen der schrecklichen Ereignisse der letzten Monate nicht in der Lage war, einen solchen zu verfassen. Wobei ich ein weiteres Mal betonen muss: Covid-19 war unser kleinstes Problem. Es fand in unserer unmittelbaren Umgebung schlichtweg nicht statt. Man mag es ungläubig zur Kenntnis nehmen angesichts der Ereignisse in Europa und anderen Teilen der Welt, aber im Hospital in Emene wurde kein einziger Verdachtsfall registriert. Die ganz große Katastrophe, die ja buchstäblich über Afrika heraufbeschworen wurde, blieb in Nigeria aus. 

Ich sehe mich außerstande, die sich zum Teil überschlagenden Ereignisse in einen einzigen Rundbrief zu packen. Deshalb habe ich mich entschlossen, diesen aufzuteilen und in Raten anzuliefern. Nur so ist gewährleistet, dass die Dinge gemäß ihrem Stellenwert, die positiven, die mich stärken, und die schrecklichen, die mich fassungslos machten, zu kommentieren. Schließlich tragen Sie / tragt Ihr maßgeblich durch Ihre / Deine Begleitung, sei sie spirituell oder finanziell, zu unserer Existenz bei. 

Deshalb fange ich mit dem an, was aktuell das Wichtigste ist: ich wünsche allen ein gutes Neues Jahr mit ganz viel Zuversicht, mit Gesundheit, Lebensfreude und der nötigen Gelassenheit trotz der bestehenden Einschränkungen.

Gabi Ayivi mit allen Bewohnern des Hauses „Nno“ sowie Dr. Aninwada, unserem Hausarzt.
07.01.2020



Fortsetzung Rundbrief Januar 2021:

Das Haus „Nno“ in Google Maps

OLILEANYA20-28 Annunciation Rd, Emene, Enugu, Nigeriahttps://maps.app.goo.gl/ny8QXu18xZX4Dch37

Grundsätzlich begegne ich der aktuellen Situation – wie der vor ca. zwei Wochen auch in Nigeria offiziell bestätigten „zweiten Welle“ - mit wesentlich mehr Gelassenheit als noch im Frühsommer 2020. Zu viel ist in den letzten Monaten passiert. Das hat dazu geführt, zur Kenntnis zu nehmen, dass es neben Covid-19 so viele Dinge gibt, die mich dazu zwingen, sie zur Kenntnis zu nehmen. Und die klar machen, dass es niemandem nutzt, wenn man sich nur auf ein Thema konzentriert. Im Verlauf dieses Rundbriefes wird deutlich, dass nichts gesondert betrachtet werden kann. Eines bedingt das andere, früher oder später.

Wir beschäftigen uns in erster Linie in unserer Sandpiste, die immer noch keinen Namen trägt, mit dem Haus Nno, das immer noch keine Nummer hat. Aber es ist weltweit leicht unter Google Map zu finden, wie ein sehr interessierter Leser dokumentiert hat:


Ab dem 04.06.2020 hatten wir die Kinder aus den verschiedenen Dörfern wieder eingesammelt, nachdem auch die Grenzen zu den benachbarten Bundesländern wieder passiert werden durften. Der erste, virusbedingte lockdown wurde für beendet erklärt.

Nochmal: wir sind alle seit dem Frühso mmer 2020 gesund in das Neue Jahr gekommen bis auf drei Einschränkungen:

Chibuike erkrankte unmittelbar nach der Rückkehr an einer akuten Blinddarmentzündung und wurde im Juli operiert.

Bild rechts: Chibi nach überstandener OP





Auch Spulwürmer und – Himmel hilf! – Scabies wurden eingeschleppt und machten uns das Leben schwer. Dem Gewürm wurde sehr schnell der Garaus gemacht, die Scabies halten sich bei vier der Kinder trotz aller Bemühungen bis heute hartnäckig.

Die Schulen waren bis zum September 2020 geschlossen. Von unserer Schule wurde ab September gemäß dem Vorbild der westlichen Welt stufenweise ein Internet-Unterricht angeboten, sehr zur Begeisterung der großen Kinder – endlich mal surfen satt! Für die Kinder der Primary-School fand Präsenz-Unterricht am Esszimmertisch statt, meist unter Leitung von Chioma. Und die Hüpfer im Kindergartenalter genossen die große Freiheit. Und auch der riesige Sandkasten um’s Haus regt zu Schreibübungen an.

Bilder von links nach rechts: Lektüre der Märchenbücher, Izu schläft, Favour übt Schreiben.

Joy erteilt Rechnen-Unterricht im Esszimmer: 


Grundsätzlich machte die Beschränkung auf die häusliche Umgebung erstaunlich wenig Probleme. Die Kinder konnten sich sehr gut alleine beschäftigen, nach der langen Abwesenheit waren auch die Spielsachen – Puzzle, Bilderbücher, Lego und Co. – wieder interessanter geworden.

Die Tischtennisplatte ist im Dauereinsatz und vor dem Tor finden erbitterte Kämpfe um einen mittlerweile absolut ramponierten Fußball statt. Jeden Sonntagnachmittag gibt es ein Turnier mit Jugendlichen aus der näheren Umgebung, der Lärmpegel steigt bis auf das Niveau des Stadions in Freiburg.


In der unaufgeregten Atmosphäre mit sehr reduzierten Außenkontakten kamen alle zur Ruhe. Zur Verblüffung von Chioma und mir 

hatte Joy ihre aggressiven Ausfälle völlig abgelegt. Aus dem Dorf ist ein ausgeglichenes Mädchen zurückgekehrt, das den Kleinen gegenüber die Haltung der großen Schwester entwickelt hatte. Außerdem hat sie endlich den Ehrgeiz entwickelt, lesen lernen zu wollen und übt heimlich, still und leise Texte, die sie dann in der Gruppe vorträgt.

Bild rechts: Joy


Ab dem 07.10.2020 wurden in Enugu State die Schulen wieder geöffnet, die Kindergartenkinder blieben weiterhin zu Hause.

Leider währte dieser Einstieg in die Normalität nur wenige Tage. Zunächst unbemerkt in unserer Provinz erlebte die bereits im Jahr 2017 gegründete #EndSars-Bewegung einen neuen Aufschwung (siehe auch Wikipedia). Zu diesen Ereignissen werde ich später gesondert Stellung nehmen.

Nachdem die Welle der Gewalt Mitte Oktober auch in Enugu State angekommen war, mussten die Schulen erneut geschlossen werden, es gab Ausgangssperren, die von der Praxis her zu einem weiteren lockdown führten.

Erst Anfang November kehrte wieder etwas mehr Ruhe ein und wir können wegen der schulischen Entwicklung endlich ein „update“ machen: Irhuoma hat den Abschluss der Mittleren Reife mit sehr gutem Erfolg geschafft. Für sie ist jetzt erst mal Schluss mit Schule. Sie hat sich entschlossen, zunächst eine Lehre als Schneiderin zu absolvieren, um dann in eine Schule für Designer zu wechseln. Ich bin sehr froh über diese Entscheidung, die viel Überredung erforderte. Aber nur so ist gewährleistet, dass sie sich auch mit den praktischen Seiten dieses Berufes auseinandersetzt.

Inmitten all dieser Turbulenzen fiel uns ein Geschenk des Himmels zu Füßen: Unser Zwerg Promise schneite ins Haus, seine traurige Vorgeschichte habe ich bereits geschildert. Nahtlos hat er sich in der Gruppe großer Brüder und Schwestern eingenistet, ist everybodys darling.

Bild rechts: Promise Enoubu Eva



Tochukwu ist in gewohnter Weise herausragend, wurde Jahrgangsbester seiner Altersgruppe. Ifechukwu und Promise haben den Übergang zur Secondary School absolviert. Es wird sich zeigen, wie sich die Fehlzeiten von fast einem dreiviertel Jahr auf die Bewältigung des Lernstoffes auswirken.

Grundsätzlich ist alles in der Schwebe: Im Dezember wurde in Nigeria offiziell die „zweite Welle“ von Covid-19 bekannt gegeben. Vor wenigen Tagen teilte der Governor mit, dass die Schulen am 18.01.2021 wieder geöffnet werden – kurz darauf wiederum war im Internet zu lesen, dass es eventuell zu einem zweiten lockdown komme, wenn sich die Fallzahlen der Erkrankungen im Rahmen von Corona weiterhin so drastisch nach oben bewegen wie in den letzten Tagen. Im Klartext: Wir hängen in der Luft. Und das, obwohl wir nach wie vor von einer hohen Anzahl von Krankheitsfällen im Zusammenhang mit der Pandemie verschont blieben.

Für mich bedeutet das in erster Linie, dass im Haus Reparaturen ausgeführt werden können, solange die Kinder in den Weihnachtsferien bei ihren Familien sind. Endlich kehren die Menschen aus dem Urlaub auf dem Dorf zurück und mit ihnen stehen auch die Handwerker parat, um Aufträge anzunehmen und auszuführen.

Eine grundsätzliche Erklärung ist noch fällig. In unserer ursprünglichen Planung war vorgesehen, dass das Haus „Nno“ für 8 – 10 Kinder konzipiert ist. Diese Planung wurde erstellt, als ich noch in Deutschland lebte. Bereits bei der Erteilung der Betriebserlaubnis durch das Ministry of Gender Affairs in Enugu wurde klar, dass Nigerianer eine etwas andere Sicht der Dinge haben. Der begutachtende Mensch zeigte sich erstaunt bei der Besichtigung der Örtlichkeiten. Er konstatierte, dass ich in jedes Bett mindestens 3 Kinder legen könne. Macht bei 10 Betten 30 Kinder. Mittlerweile sind wir bei 17 Kindern und Jugendlichen angekommen , dazu kommen noch Chioma und ich mit jeweils einem eigenen Zimmer. Oft entscheiden die Kinder selbst, wo sie schlafen möchten: wahlweise bei Chioma oder mir oder bei einem Geschwisterkind. Noch bekommen wir das ohne größere Gewissensbisse geregelt. Okwudili wird uns im April nach Beendigung seiner Schneiderlehre verlassen und seinen eigenen Hausstand gründen – so der aktuelle Plan. Es ist aber wahrscheinlicher, dass er in der Obhut seiner Mutter oder seiner Schwester eine Werkstatt eröffnet, das Alleineleben würde ihm schwerfallen. Auf jeden Fall wird dann ein Bett frei. Und im Moment bahnt sich ganz vorsichtig eine Lösung an, die all unsere Probleme langfristig lösen würde. Noch ist nichts entschieden, aber ich werde mich unmittelbar melden, in welche Richtung hier die Würfel fallen.

Äußerst erfreulich gestaltet sich auch die Arbeitsteilung. Alle Kinder absolvieren, ihrem jeweiligen Alter und Vermögen entsprechend, einen Dienst im wöchentlichen Wechsel, meist in Zweiergruppen. Dieser wird täglich absolviert in der Küche (fegen, Tisch decken, abwaschen und Geschirr aufräumen), Boden wischen, Hühnchen versorgen, im Außenbereich die Pflanzen wässern, Wäsche waschen. Der Samstag ist für mich der schönste Tag. Da vibriert das Haus, alles wuselt, es findet die Grundreinigung statt in allen Räumen. Und all das geht bei bester Laune vor sich, es wird auch gesungen und getanzt, wer Zeit hat, klimpert auf dem keyboard. Das highlight am Wochenende ist das sonntagabendliche Kochen, das unter meiner Obhut steht. Non-Igbo food ist angesagt. Überall da, wo Muskelkraft und der Einsatz von Gerätschaften gefragt sind, kommen die Jungs in Schwung. Eventuellen Zweiflern kann bereits im Vorfeld mitgeteilt werden: schwäbische Küche kommt nach anfänglicher Skepsis sehr gut an.



Bilder oben: Tochukwu schert Haare,Chiadi schaukelt, Hilfe in der Küche


Bild unten links:Okwudilis Gesellenstücke zum Abschluss seiner Lehre: Weihnachtskleidung 2020 für alle Jungs.
Bild unten Mitte: Deko-Team Joy und Ugochukwu
Bild unten rechts: einfach schön!

So anstrengend dieser große Haushalt zuweilen ist aufgrund des ständig mehr oder weniger vorhandenen Lärmpegels, dem Gefühl, stets parat stehen zu müssen für die verschiedenen Anliegen des Alltags, so befriedigend ist er. Es überwiegt das Gefühl, dass man (meist) am gleichen Strang zieht und sich bewusst ist, ein gemeinsames Ziel vor Augen zu haben.


Gesundheit

Fangen wir mit dem Thema an, das die Welt seit nahezu einem Jahr in Atem hält: Covid-19 spielt in Enugu, was die Fallzahlen angeht, eine sehr untergeordnete Rolle. Die Statistik scheint eingefroren zu sein, weist seit Wochen die gleichen Ergebnisse auf: 1.332 Fälle insgesamt seit Beginn der Zählung, davon seien 1.290 genesen und 21 verstorben. Im Vergleich zu anderen Ländern liest sich das unglaublich. Dies führte bis in den Herbst hinein zu der Überzeugung, dass dass Virus Nigeria links liegen lässt.Im Annunciation Specialist Hospital wurde bis heute kein Verdachtsfall bekannt. Bei Dr. Aninwada stellte sich in der Ambulanz vor einigen Wochen lediglich ein Mann vor, der über Husten, Abgeschlagenheit und Fieber klagte. Er wurde ins Testzentrum nach Enugu geschickt, gleichzeitig erhielt er die Standardmedikation gegen Malaria. Ein paar Tage später stellte er sich erneut vor: zum Testen sei er nicht gegangen. Er habe die Medikamente genommen und fühle sich wieder pudelwohl.

Bevor man öffentliche Gebäude wie Krankenhaus, Bank, eine Kirche oder ein Einkaufszentrum betreten darf, bestehen auch hierzulande folgende Regelungen: Gesichtsmasken sind Pflicht, die Hände müssen gewaschen werden, das Fieber wird gemessen. Wenn die Kontrolle an den Eingangstüren absolviert wurde, sieht es im Inneren schon ganz anders aus, dann legen die Meisten dieses lästige Stück Stoff sehr schnell wieder ab.

Bild rechts oben:  Der Governor macht es vor.
Bild rechts unten: Auch Emma hält sich an die Regeln

Restaurants und Hotels aber waren strikt über Monate hinweg geschlossen, die Märkte hingegen waren durchgehend geöffnet. Anders wäre der Alltag nicht zu organisieren. Längst nicht alle Menschen haben einen Kühlschrank, dies ist auch durch die mangelhafte Versorgung mit Strom gar nicht möglich. Demzufolge ist Vorratshaltung frischer Lebensmittel nicht üblich. Man geht nahezu täglich zum Einkaufen auf den Markt. Und dort werden Masken normalerweise äußerst leger unter’m Kinn bis gar nicht getragen. Ein konsequenter lockdown sieht anders aus.

Ab November stiegen dann die Fallzahlen erst langsam, dann sprunghaft an: die Flughäfen waren wieder geöffnet worden, zu Weihnachten kehrten viele Nigerianer aus dem Ausland in die Heimat zurück. Zwar wurde eine freiwillige Isolation angeordnet, es wurde jedoch nicht überprüft, ob sie eingehalten wird. Am 11.01. waren mehr als 100.000 Menschen positiv auf Corona getestet worden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass in Nigeria die Menschen grundsätzlich nur im äußersten Notfall ein Krankenhaus aufsuchen. Viele können die Kosten für einen Arztbesuch nicht aufbringen.

Ab März 2021 soll mit der Lieferung von Impfstoff der Fa. Pfizer begonnen werden, zunächst 100.000 Dosen – bei mehr als 200 Mio. Einwohnern ist das der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.. Diese werden an die einzelnen Bundesstaaten gemäß der jeweiligen Einwohnerzahlen verteilt. Auf Enugu entfallen unter 2.000 Dosen, die kurze Notiz mit dieser Information war nach wenigen Minuten wieder aus dem Netz entfernt worden.

Einige Aufregung gab es, als in Nsukka, einer Stadt in Enugu State, im November Gelbfieber auftrat. Zunächst wurde berichtet, dass Dutzende Personen an einem zunächst unbekannten Leiden verstorben seien. Leider scheiterte eine geplante „massive“ Impfkampagne daran, dass es nicht genügend Impfstoff gab. Inzwischen wird aber auch zu dieser Diagnose nichts mehr berichtet.


HIV

Meine Einschätzung bezüglich der Sinnhaftigkeit des Einsatzes einer neuen Hilfsaktion aus den USA hat sich in vollem Umfang bestätigt. Der größte Teil der zur Verfügung stehenden Zeit wurde für die Erfassung von Daten aufgewendet. Viel mehr passierte nicht. Einmal im Monat fand – wie bereits seit Jahren – an einem Samstag eine Informationsveranstaltung für Erwachsene, Kinder und Jugendliche statt. Allerdings wurden Tests nun auch für Familienangehörige angeboten. Wir haben uns dieser Aktion Anfang Dezember unterzogen. Alle Bewohner des Hauses – ausgenommen die bereits betroffenen Kinder und Jugendlichen – wurden negativ getestet. Nach Meinung der HIV-Einheit des Krankenhauses sollen wir uns dieser Prozedur nun alle drei Monate unterziehen, was ich ablehnte. Ich halte den Test einmal jährlich für völlig ausreichend.

Im Oktober 2020 war das erste Jahr des Projektes abgelaufen, das damit in die Phase der Evaluation eingetreten war.


Augenzentrum Dr. Eckert, Nigeria / Annunciation Specialist Hospital:

Auch zu diesem Thema können keine positiven Ergebnisse berichtet werden. Wir bekamen einmalig eine größere Spende, mit der die Fliesenarbeiten fertiggestellt werden konnten.

Nach wie vor sind wir jedoch aktiv dabei, Hilfen für Operationen und Medikamente zur Verfügung zu stellen.Und hier gibt es wirklich und wahrhaftig mal richtig gute Nachrichten: Ich konnte Kontakt aufnehmen zu einer Organisation, die ein großartiges und erfolgreiches Hilfsangebot zur Verfügung stellt, die BINA-Foundation:  https://www.binafoundation.net

Bild oben links: Arbeitsmaterial
Bild oben rechts: Sozialarbeiter bei BINA Foundation
Bild Mitte links: Leadership in Nigeria
Bild Mitte rechts: Braille-Maschine
Bild unten: Computerraum

Ich habe für Mitte Februar bereits einen Patienten dort angemeldet, der wegen eines fortschreitenden Glaukoms langsam erblindet. Das Angebot ist kostenlos, der Service hervorragend. So werden Menschen, die langsam erblinden, psychologisch betreut, sie erfahren ein Haushaltstraining und alle erdenkliche weitere Unterstützung. Ich bin überzeugt, dass wir hier eine gute Kooperation aufbauen können.

Der Verwandte des in Österreich lebenden Nigerianers hat sich mittlerweile in der Augenklinik vorgestellt und wurde in zwei Terminen gründlich untersucht und beraten. Leider lässt er jegliche Kooperation vermissen, so dass der Neffe eine weitere Hilfe abgelehnt hat. Es ist also durchaus nach wie vor immer etwas los – mal mehr, mal weniger befriedigend. .

Hoffentlich kann ich wegen der Fertigstellung des neuen Gebäudes, der Außenanlagen und der Möblierung im laufenden Jahr Sponsoren innerhalb und außerhalb Nigerias auftun. Ich wehre mich dagegen, durch das Virus keine weiteren Planungen vorzunehmen.

Die IBAN des Augenklinik-Kontos lautet DE60642901200056955022,
BIC GENODESIVRW
Beim Verwendungszweck sollte angegeben werden, ob er der medizinischen Versorgung oder dem Neubau zugedacht ist.


Dialyse

Wie bereits berichtet, hat Gladys Ugwu den Kampf gegen ihre Nierenerkrankung verloren. Zu Beginn der zweiten wöchentlichen Dialyse hatte sich ihr Zustand zunächst gebessert, die enormen Wasseransammlungen in den Beinen wurden gänzlich ausgeschwemmt. Mit der Zeit wurde aber offensichtlich, wie sehr die Krankheit körperlich an ihr zehrte. Schwere Begleiterscheinungen der Dialyse traten zutage, Gladys verstarb am Abend des 07.12.2020.

Sr. Edith (Pflegedienstleitung) und ich entschlossen uns, dass die Kinder vom Tod der Mutter am nächsten Nachmittag erfahren sollten. Wir haben sie und den Vater eingeladen, Sr. Edith hat diese schwere Botschaft in einfühlsamer und kindgerechter Weise in Igbo übermittelt. Es war für alle Beteiligten eine sehr bewegende Stunde.

Bild: Eines der letzten Bilder von Gladys
Bild Mitte und rechts: Sr. Edith und 2 der Kinder von Gladys


Wenige Tage später begegnete mir ein Gedicht von Mascha Kaléko, die zu meinen Lieblingsdichterinnen gehört:

Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der anderen muß man leben.

Ein Trost für mich ist, dass wir das Leiden von Gladys in ihrem letzten Jahr lindern konnten. Ihr kam die Hilfe zu, die in diesem Teil Nigerias möglich ist. Und ihre Familie war mit der Situation nicht allein gelassen. Ich bedanke mich nochmals für die überwältigende Unterstützung, die wir erfahren haben.

Lepra:

Hier kommen wir endlich bei einem Thema an, das zu unseren großen Erfolgsgeschichten zählt. Der Besuch in der Lepra-Station am Ende eines Monats ist sowohl für Dr. Aninwada als auch für mich die reine Freude, für die Bewohner ein Highlight. Es ist jedes Mal großes Kino, an dem jung und alt beteiligt sind. In der Sprechstunde machte der kleine Antony seine ersten Schritte, die Kinder sind interessierte Zaungäste, jeder hat die ihm zugeteilte Position: Arzt – Patient - Übermittler(in).

Bild oben links: Übersetzung der Erklärungen von Doc Obinna
Bild oben rechts: Mama und Baby Anthony
Bild unten links: Zaungäste
Bild unten rechts: Imbiss von Mama G.



Und auch hier können Sie gezielt helfen. Mit einer Spende für das Lepra-Camp können wir die Medikamente bezahlen und das Gehalt für Doktor Aninwada. Für die Bewohner ist es weit mehr als das: Sie bekommen Besuch, ihre großen und kleinen Sorgen werden wahrgenommen. Bei Gladys, der Mutter des kleinen Antony, konnte endlich der hohe Blutdruck befriedigend eingestellt werden. Dies wiederum ermöglichte es ihr, einen kleinen Verkaufsstand gegenüber des Camps aufzubauen. Hier verkauft sie kleine Snacks: gebratene Bananen, geröstete Maiskolben etc. an die vorüber kommenden Autofahrer. Das Camp erwacht aus seiner Isolation, nachdem seit einem Jahr eine neue Durchgangsstraße daran vorbeiführt.

Ein kurzer Hinweis auf Ihrer Überweisung genügt.

Was war / ist sonst noch los in Nigeria, u.a. #EndSars Nigeria

Zum Abschluss der für mich mit Sicherheit schwierigste Teil dieses Rundbriefes

Im Oktober 2020 bekam ich dieses Foto per WhatsApp zugeschickt und habe mich zunächst sehr über den Sprachwitz gefreut.

Diese Freude hielt leider nur wenige Tage an. Eine Gruppe junger AktivistInnen hatte sich die Abkürzung – SARS = Severe acute respiratory syndrome - ganz pfiffig „ausgeliehen“, um auf die nigerianische Variante des Begriffes SARS aufmerksam zu machen, das Special Anti-Robbery Squad (SARS), den notorisch missbräuchlich operierenden Zweig der nigerianischen Polizei. Mit viel Phantasie, Enthusiasmus und absolut gewaltfrei hat die Jugend* Nigerias Demonstrationen organisiert, auf die Polizei und Armee zunehmend mit roher Gewalt reagierte. Leider hatte die ursprüngliche Idee eines friedlichen Protestes nicht funktioniert. Das brutale Eingreifen von Armee und Polizei sorgte vielmehr innerhalb kürzester Zeit dafür, dass die Stimmung in pure Aggression umschlug, die wie eine Feuerwalze über das ganze Land raste. Unser bis dato friedliches Enugu wurde genau so überrollt wie fast alle anderen Landesteile. Lediglich aus dem hohen Norden kamen keine Schreckensbotschaften. Dort hat man vermutlich wegen Boko Haram und in deren Dunstkreis operierenden Gruppen genügend andere Probleme zu bestehen.

*Für ein grundsätzliches Verständnis bedarf es einer Erklärung:

Der Begriff „Jugend“ ist in Nigeria wesentlich weiter gefasst als z.B. in Deutschland üblich. Dort wird man in der Regel mit 18 Jahren als erwachsen behandelt (auch wenn das nicht immer der Realität entspricht). In Nigeria ist man erwachsen, wenn man sich irgendwo sesshaft niedergelassen hat. „Jugend“ ist nicht an ein Alter gebunden. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass die Schulzeit oder ein Studium sich sehr lange hinziehen kann. Kein Geld, Gebühren zu zahlen, kein Geld, um einen Beruf zu erlernen, „Lehrgeld“ zu zahlen, kein Geld, zur Universität zu gehen und die dort vorherrschenden horrenden Gebühren zu begleichen. Außerdem wird an Universitäten in schöner Regelmäßigkeit monatelang gestreikt, der Lehrbetrieb ist lahmgelegt. Oder die Uni hat kein Geld, den Lehrbetrieb aufrecht zu erhalten. Sehr oft hörte ich den Satz, wenn ich z.B. mit einem Trolley-Boy bei „Spar“ spreche oder einem Keke-Driver: Der eine hat das Studium der Economy abgeschlossen, findet aber keinen Arbeitsplatz. Der andere hat angefangen zu studieren, musste aber abbrechen, weil der Vater starb oder ein Onkel, der das Studium finanzierte. Hochintelligente, junge Menschen, deren Potential brachliegt, die keine Perspektive haben, dafür nur dieses eine Ziel: raus aus diesem Land. Studentinnen greifen häufig auf das Mittel der Prostitution zurück, praktischerweise mit einem der Professoren. Das ist allgemein bekannt und wird keinesfalls als anrüchig betrachtet.

Wenn man dann endlich ein Studium abschließen oder einen Beruf lernen konnte, wartet man darauf, dass der Staat ruft, um den sog. „Youth-Service“ zu absolvieren – der Dienst, den die „Jugendlichen“ dem Heimatland abzuleisten haben, in allen möglichen Bereichen, wo es an Arbeitskräften mangelt. Die Jugendlichen sind bis dahin meist Erwachsene bis zu 35 Jahren oder darüber. Bevor sie die Bestätigung schriftlich in Händen halten, dass sie den Service geleistet haben, werden sie nirgendwo angestellt. Denn bis diese vielen jungen Menschen endlich zu einem Einsatz gerufen werden, kann es dauern. Es sind einfach zu viele für zu wenig Einsatzmöglichkeiten.

Kurz: es handelt sich bei der Bewegung nicht ausschließlich um Grünschnäbel, sondern um Menschen mit Lebenserfahrung, mit dem Willen, sich durchzubeißen und Verantwortung zu übernehmen. Auf jeden Fall mit dem Willen, die alten leader von ihren einträglichen Stühlchen zu entfernen und 90 Prozent der Polizisten und der Armee gleich mit.

Statt mit diesen klugen und motivierten Menschen in einen Dialog zu treten, trat das hässliche Gesicht der Staatsmacht offen zutage. Zunächst wurde die sogenannte Jugend für die aggressiven Ausschreitungen verantwortlich gemacht, die auch Todesopfer forderten. Als sie sich zurückzogen, übernahmen unorganisierte Banden die Herrschaft – ebenfalls überwiegend junge Leute, die noch nie im Leben in diesem Land eine Chance hatten. Einkaufszentren wurden geplündert und zerstört, öffentliche Gebäude in Brand gesetzt, Banken demoliert – der Mob bekam die Oberhand und zog marodierend durch die Straßen... Es haben sich furchtbare Szenen abgespielt. Menschen auf der Flucht wurden in den Rücken geschossen und getötet. Es war nicht auseinander zu halten, ob durch Polizei, Armee oder durch die blindwütige Masse.












Fotos: FirstBank in Emene, die bis heute nicht instandgesetzt wird

Link zu einem Artikel über eine zerstörte SPAR-Filiale in Lagos. Sehr motivierend die reaktion des Großkonzerns!

Ganz zum Schluss beteiligten sich auch die Älteren. Es wurden sog. Palliativ-warehouses geöffnet und ausgeräumt, in denen die Obrigkeit ab März 2019 gespendete Lebensmittel gehortet hatte, die zur Ausgabe in Zeiten der coronabedingten Not gedacht waren. Nur hatten die Verantwortlichen diesen Zeitpunkt meist nicht als für gekommen erachtet oder sich vielmehr selbst bedient. Ein Governor führte zur Erklärung an, er habe mit der Verteilung zur Feier seines Geburtstages beginnen wollen. Mittlerweile waren verderbliche Lebensmittel unbrauchbar geworden. Solches ist auch in Enugu geschehen, was das Vertrauen in den bisher geschätzten Governor vermutlich nachhaltig erschüttert hat. Trotz des erneuten Skandals verliefen diese Aktionen friedlich und geordnet. 


















https://www.premiumtimesng.com/regional/ssouth-west/422371-just-in-stampede-in-lagos-as-residents-break-into-covid-19-palliatives-warehouse.html

Ein Umdenken innerhalb der jeweiligen Institutionen – Polizei, Armee, Regierung - hält hier niemand für realistisch. Vielmehr war die 2017 offiziell bereits einmal aufgelöste SARS durch eine neue Gruppe, SWAT, ersetzt worden. In der Realität ist lediglich der Name neu, das Personal ist überwiegend das gleiche.

Um es auf den Punkt zu bringen: Es war der absolut friedliche Versuch des Aufstands einer hochmotivierten Generation, gebildet, mit Köpfchen und Visionen. Die Antwort darauf war bitter. Der Staat ist an solchen Denkern nicht interessiert. Zu meiner Freude ist die Bewegung dennoch nicht kleinzukriegen, sie wächst. Wenn Menschen außerhalb Nigerias die vielen Chats sehen würden, die ich bekomme, hätten sie an dieser Aufbruchstimmung ihre helle Freude. Mittlerweile waren nämlich auch unterstützende Stimmen laut geworden aus dem Bereich von Menschenrechtsorganisationen in Nigeria:

https://punchng.com/survivors-of-awkuzu-sars-said-squad-sold-body-parts-of-executed-victims-nwanguma-rulaac-exec-dir/

Solche Publikationen sind ungemein wichtig und motivierend, auf dem einmal eingeschlagenen Weg fortzufahren.

Mich persönlich belasteten nicht nur die Unruhen selbst, die zur Schließung der Schulen, zu Ausgangssperren und Schießereien mit Todesopfern auch in Emene geführt hatten, sondern das völlig fehlende Interesse der sog. westlichen Welt an dem, was hier stattfand. Wie ich bereits an anderer Stelle schrieb, habe ich das Gefühl, dass außer Covid-19 und seinen Folgen nur sehr wenig Dinge es wert sind, in der deutschen Presselandschaft Interesse zu erwecken. Ein Essay des Schriftstellers Wole Soyinka aus der taz war das Einzige, was ich zu dem Thema zugeschickt bekam. Zum ersten Mal seit Jahren überkam mich eine unendliche Traurigkeit: wir werden nicht mehr wahrgenommen. Europa igelt sich ein, wirft keinen Blick mehr nach außen. Wir könnten hier vor die Hunde gehen, es interessiert nicht.

Irgendwann dachte ich aber, das Warten auf einen Zuspruch von außen hat keinen Sinn. Wir sind auf uns gestellt, also müssen wir uns selbst helfen. Denn von Seiten der „Jugendlichen“ kamen ja durchaus Impulse und Beiträge zu dem, was so offensichtlich im Argen liegt. So habe ich mich entschlossen, eine kleine Gruppe Gleichgesinnter zu suchen, in der wir diskutieren können, um zum Beispiel ein Modell „Friedensarbeit in Enugu“ aufzubauen. Dies ist mittlerweile geschehen. Ein wunderbares Gefühl! Für den Moment können wir zwar nicht praktisch handeln, aber auch gemeinsam denken und träumen hilft. Und wir werden Unterstützung aus Deutschland bekommen, auch das ist bereits in Planung. Endlich geht es mir wieder gut und ich habe das Gefühl, dass etwas vorwärts geht.

Insofern hat sich das Hadern mit diesem Rundbrief letzten Endes doch ausgezahlt und mündet in dem Wissen, dass zwar mit Sicherheit nicht alles gut wird, dass aus dem Chaos aber doch ein Ziel erwächst.

Ein immens wichtiger Aspekt darf allerdings auf keinen Fall vernachlässigt werden: Entgegen skeptischer Rückmeldungen von anderer Seite haben wir noch nie eine so große Unterstützung in finanzieller Hinsicht erfahren wie im vergangenen Jahr. Das ist überwältigend. Trotz der gigantischen Teuerungsrate im Land, vor allem im Bereich der Lebensmittel (dass z.B. Zwiebeln zum Luxusartikel werden, war einen Artikel in der nigerianischen Presse wert), muss ich bei der Versorgung der Kinder keine Abstriche machen. Dafür bin ich unendlich dankbar. Ich kann Äpfel und H-Milch, sogar Yoghurt im Supermarkt kaufen, ohne in die Knie zu gehen, auch frischen Salat. Über Dr. Obinna werden Kartoffeln aus dem Hochland direkt an unser Tor geliefert. Beim Vater von Robert, dem Künstler unseres diesjährigen Kalenders, können wir ein Schweinchen kaufen, und unsere künftige Vorratshaltung ist dank einer Großspende gesichert. Durch sie ist u.a. der Kauf einer größeren Tiefkühltruhe für unseren zunehmenden Bedarf sichergestellt. Ich habe allen Grund, sehr dankbar zu sein und tue dies hiermit ausdrücklich kund.

Und damit kommt endlich ein Schluss-Satz:

Macht’s gut, bleibt gesund, bitte denkt ab und zu an uns, begleitet uns. Das tut uns gut und hilft enorm weiter.

Herzliche Grüße aus der Hitze – Gabi aus Emene


Hier noch ein Link zu eine Artikel 
The roots of the #EndSARS protests in Nigeria

Video: What is SARS 


Und hier geht´s zum FOTOALBUM zum Rundbrief vom Januar 2021