Reisetagebuch Teil 4

Mittwoch / Donnerstag, 15.08./16.08.2012

Gabi schreibt:

Während der gesamten letzten Woche hatten wir keinen ausreichenden Zugang zum Internet, konnten deshalb auch für das Tagebuch nichts verschicken. Dies haben wir heute endlich nachgeholt. 

Wir sind voll in die Auswirkungen eines Streiks von NEPA gerauscht, der staatlichen nigerianischen Energiegesellschaft. Angeblich gibt es Querelen wegen der Absichten, europäische Investoren ins Land zu holen, um das Stromnetz auszubauen und die Verfügbarkeit von Elektrizität etwas zuverlässiger zu gestalten. In der Realität sieht es jetzt so aus, dass die Lichter abends entweder ganz ausgehen oder aber zwischen hell und extrem gedimmt schwanken – und mit ihnen die Kühlschränke, die Ventilatoren, die Air Condition, die Fernsehgeräte etc. pp., einfach alles, was elektrisch betrieben wird. Somit auch das Duschen, weil die Wasserpumpen nicht arbeiten. Es ist relativ teuer, allen Ausfällen durch den Betrieb eines Generators zu begegnen. Chinedu hat entweder strikte Sparvorgaben, oder aber er erlebt die Beschränkung als nicht so tragisch. 

Am Mittwoch wurden wir morgens durch die Gesänge eines im großen Pavillon abgehaltenen Gottesdienstes im Freien begrüßt. Wie sich später herausstellte, feiern die Katholiken Nigerias am 15.08. das Fest „Mariä Himmelfahrt“, weshalb auch Sr. Jane einen freien Tag hatte. Sie holte uns zu einem Restaurantbesuch in Enugu ab, dem sich eine ausführliche Stadtrundfahrt anschloss. Leider lässt sich das frühere „Coal Camp“ nur noch erahnen – Enugu hat riesige Kohlebergwerke, in denen seit der Ölförderung nicht mehr abgebaut wird. Stattdessen haben sich auf dem Gelände am Rande der Stadt – wie überall an allen Straßen – unzählige kleine Händler und Handwerker niedergelassen. Speziell im Coal Camp  sind die Autoschrauber ansässig. Dann umfahren wir einmal den riesigen Markt am „Old Park“ - von Park ist allerdings weit und breit nichts mehr zu sehen. Um so beeindruckender ist der Abendverkehr gegen 17.00 Uhr. Die ganze Stadt scheint entweder auf den Beinen oder im Auto unterwegs zu sein. Und in dem ganzen Chaos wirbeln noch Buben mit Schubkarren durch die kleinste sich ergebende Lücke. Die Situation ist wirklich nicht zu beschreiben, das muss Mann/Frau gesehen haben. 

So schön und entspannend die Situation in OfuObi ist, so sind wir dort doch mehr oder weniger gefangen. Um in die Stadt zu gelangen, müssten wir ein Taxi ordern, und Enugu lädt wahrlich nicht zum Flanieren ein. Es gibt keine malerischen Flecken, keine gepflegte Einkaufsstraße. Also bleiben wir auf dem Gelände, lesen, unterhalten uns mit Chinedu, dem Philosophen und Menschenfreund und hören uns seine Sicht der Dinge an. Am Donnerstag Nachmittag nimmt er uns jedoch mit in die Stadt: Stefan möchte sich nach einem Stoff für ein Hemd umschauen, außerdem brauchen wir dringend mal wieder Lebensmittel. Da OfuObi keine Verpflegung anbietet, sind wir auf unsere eigene Versorgung angewiesen. 

Stefan wird mit seiner Suche nicht fündig, dafür tauchen wir in einen kleinen afrikanischen Markt ein und versorgen uns mit Kartoffeln, Karotten, Eiern und Obst. Am Abend kocht Stefan eine leckere Kartoffelpfanne mit Rührei. Wunnderbar!



Freitag, 17.08.2012

Heute bekamen wir eine Glanzvorstellung von afrikanischem Zeitmanagement angeliefert: Emmanuel hatte am Vortag angekündigt, uns um 9.00 Uhr von einem Fahrer abholen zu lassen. Stefan sollte endlich auf den großen Markt in Enugu gehen dürfen. Emmanuels Zeitplan sah so aus, dass wir spätestens um 13.00 Uhr in OfuObi zurück sein würden, weil er dann einen Anschlusstermin habe. Um 9.45 Uhr rief ich zum ersten Mal an, um nachzufragen.  Letzten Endes kamen der Fahrer und sein Begleiter dann kurz vor 12.00 Uhr bei uns an, nachdem etliche Entschuldigungsanrufe wegen der Verzögerung eingegangen waren. 

Nachdem mir Emmanuels Arbeitsplatz und das Labyrinth des Marktes bekannt sind, durfte Stefan in eine für ihn bis dahin fremde Welt eintauchen:


Stefan schreibt:

Der Markt in Enugu ist eine Stadt für sich, bestehend aus lauter kleinen aneinandergereihten Läden, jeder mit einem Blechdach versehen. Von oben betrachtet erinnert es ein wenig an ein riesiges Gewächshaus. Nur eben aus Blech. Der Getränkehandel von Emmanuel befindet sich direkt am Rande des Markts. Es gab zwei Dinge, die ich auf dem Markt erwerben wollte: Stoff für ein Hemd und eine Machete. Nach kurzer Unterweisung der Bodyguards durch Emmanuel (einer davon hat Oberarme mit dem Umfang meiner Oberschenkel) stürzten wir uns ins Getümmel. Nicht ohne jedoch vorher jedem Händler in näherer Umgebung vorgestellt worden zu sein. Die Menschen hier sind wirklich äußerst überrascht, Individuen mit weißer Hautfarbe zu sehen. Die meisten haben einen „Weißen“ bisher nur im TV oder Internet gesehen, und dementsprechend sind wir natürlich eine willkommene Abwechslung und auch eine Art Attraktion. 

Auf dem Markt gibt es nahezu alles. Interessant waren v.a. große lebende Schnecken mit Spiralschneckenhäuser, die, bevor sie im Kochtopf landen, hier auf dem Markt noch lustig umher kriechen. Schließlich gelangten wir zu einem kleinen Stoffladen mit einer wirklich großen Auswahl an wunderschönen Stoffen. Die Igbo sind jedoch knallharte Geschäftsmänner, so dass sich die Einigung auf einen für mich akzeptablen Preis äußerst schwierig gestaltete. Schließlich wurden wir uns mehr oder weniger einig (habe natürlich trotzdem einen Ausländerbonus bezahlt) und weiter gings. Nach dem Erwerb einer Machete ging es zwei Stände weiter, wo ich mir diese noch für umgerechnet fünfzig Cent schleifen ließ. 


Ich war also äußerst happy und so ging es zurück zu Emmanuel. Alles in allem haben wir nur die Peripherie des Marktes gesehen. Jedoch ist es für einen Weißen nicht sonderlich ratsam, tiefer in diesen Moloch einzutauchen. Es könnte sein, dass man verloren geht. Entweder durch kidnapping oder man findet schlicht und einfach nicht mehr heraus. 

Nachdem wir meine Mutter am OfuObi abgesetzten, lud Emmanuel mich und seine zwei Kollegen noch auf ein Bierchen ein. Wir fuhren zu einem für hiesige Verhältnisse noblen Hotel und setzen uns dort an die Poolbar. Wir plauderten über dies und das, tranken ein-zwei Bierchen und aßen noch eine Kleinigkeit. Die Rechnung hatte es mit 11.000 Naira in sich (umgerechnet ca. 55 €uro). Vor allem wenn man bedenkt, dass der Monatslohn unserer Bedienung und so ziemlich jedes kleinen Angestellten hier bei 10.000 Naira liegt. Da wurde mal wieder deutlich, wie unverhältnismäßig hier vieles ist. 


Samstag, 18.08.2012

Gabi schreibt:

Heute sollten wir eigentlich eine der großen Attraktionen im Bundesstaat Enugu besuchen dürfen, den Awhum-Wasserfall. Chinedu legte uns dieses Naturschauspiel als einzigartig ans Herz und begleitete uns dorthin - Josef, der beste Fahrer weltweit, steuerte das Auto in gewohnter Lässigkeit über die oft doch sehr holprige Piste. Awhum liegt neben einem Kloster oben im Gebirge, die Strecke von Enugu bis dorthin benötigt etwa eine Stunde Fahrzeit. Es scheint, als ob die Mönche sich möglichst weit entfernt von der Zivilisation angesiedelt haben, außerdem ist das Kloster von einer hohen Mauer umgeben. An der Eingangspforte erwartete uns dann die große Enttäuschung: die Mönche (lt. Sr. Jane wohl ca. 200 Stück) seien außer Haus, der Wasserfall sei bis Mitte September „geschlossen“. Die Torwächter berichteten von Besuchern aus Lagos, denen der Zugang ebenso verwehrt werde wie jetzt uns. Für Stefan und mich ist diese Regelung absolut nicht nachvollziehbar: Der Weg zum Wasserfall befindet sich außerhalb der Klostermauern und wäre – eigentlich – problemlos für jedermann und jederfrau zugänglich. Wie auch immer: wir dürfen nicht runter und fahren enttäuscht wieder zurück. Chinedu entschädigt mich ein wenig, indem er die Route der „alten“ Straße nach Enugu wählt. Diese wurde von den Engländern erbaut und erinnert mich mit ihren Kurven an die kleinen Sträßchen durch den Schwarzwald. 

Am Abend sind wir dann mit unserem Schicksal wieder völlig versöhnt: Chinedu nimmt uns zu einer Probe seines Kirchenchores mit, der den Namen „Shalom“ trägt. An diesem Abend kommen nur 11 Personen zum Singen, aber es ist einzigartig. Es ist ein Geschenk, diese Stimmen hören zu dürfen, jede einzelne davon wäre als Solo gut. Und das Ganze geht völlig ohne Papier vonstatten: der Chorleiter, ein großer, junger, bärtiger Mann, macht die Arrangements und hat alles im Kopf. Er geht von Stimme zu Stimme und gibt Anweisungen. Niemand hat jemals was von Stimmbildung gehört oder ein Notenblatt in der Hand gehabt. Ich sitze da, lausche und wünsche mir, all diese begeisterten und begabten jungen Menschen zu einer Tournee nach Süddeutschland einladen zu dürfen. 


Ein weiterer Fan, ein älterer Mann aus Sigmaringen, hat dies lt. Chinedu vor inzwischen drei Jahren schon mal versucht und ist kläglich gescheitert: die deutsche Botschaft erteilt keine Visa, wenn man nicht ein gewisses Guthaben auf einem Bankkonto sowie ein weit über dem Durchschnitt liegendes monatliches Einkommen nachweisen kann. Das heißt in der Praxis: no chance to enter Germany. 

Ich werde dem Chor vorgestellt mit der Ankündigung, dass ich nach meinem Umzug dort mitsingen wolle. Nach der soeben abgelieferten Probe kann ich mir das zwar nicht so richtig vorstellen – am ehesten werde ich noch als background-Stimme durchgehen -, trotzdem freue ich mich sehr auf diese Möglichkeit. In der knappen Stunde mit diesen ernsthaften jungen Menschen war es mir möglich, die Not vor der Tür auszublenden. Wie Chinedu berichtet, geht „Shalom“ auch regelmäßig in Krankenhäuser, um mit seinen Gesängen etwas Trost zu spenden. Durch den Erlös der inzwischen zwei aufgenommenen CD's werden Krankenhausaufenthalte für Menschen finanziert, die sich einen solchen sonst nie leisten könnten. Im Moment ist der Chor dabei, sich als Verein eintragen zu lassen. 

  

Sonntag, 19.08.2012: 

Gabi schreibt:

Um 10.00 Uhr kommt Josef pünktlich angereist und holt uns zurück nach Emene. Wir sind froh, endlich wieder „freien Ausgang“ zu haben, d.h. auch Zugang zu Lebensmitteln, ohne einen Fahrer zu benötigen. 

Im Dracc wird eine Kindergruppe erwartet, die für eine Woche hier Ferien macht. Unter der Betreuung einer Schwester werden sie Sport treiben, spielen, malen, singen und – wie es sich für ein Kloster gehört – beten. Für eines der Mädchen ist es eine Auszeit der besonderen Art. Sie hat uns sehr vertrauensvoll die Geschichte ihres bisher so kurzen Lebens erzählt, die uns bedrückt zurücklässt: Mary Cynthia ist jetzt 15 Jahre alt und das älteste von 5 Kindern. Ihr Vater starb vor 6 Jahren bei einem Verkehrsunfall. Da die Mutter infolge dessen kein Geld für den Lebensunterhalt gehabt habe, seien alle Kinder ins Charity-Home nach Enugu gekommen. Sie selbst sei dort 2 Jahre lang geblieben, habe sehr unter der Boshaftigkeit eines älteren Mädchens gelitten. Sie sei dann als Haushaltshilfe zu einer Familie nach Lagos gekommen. Das sei allerdings nicht gut gegangen, sie sei nicht gut behandelt worden. Man habe sie deshalb zu einer anderen Familie gebracht. Sie habe geputzt, gekocht, gewaschen, habe dafür Unterkunft und Verpflegung bekommen. Die Familie sei sehr gut zu ihr gewesen. Sie sei nie geschlagen worden, habe vielmehr mit den anderen Kindern die Schule besuchen dürfen, sei – abgesehen von der ihr aufgetragenen Hausarbeit – behandelt worden wie ein eigenes Kind. Dort sei es sehr schön gewesen. Inzwischen habe die Mutter alle Kinder wieder zu sich nach Hause geholt. Sie betreibe jetzt ein kleines Geschäft auf einem Markt und Mary  Cynthia müsse ihr helfen. Allerdings dürfe sie immer noch in die Schule gehen. Ich wünsche ihr eine wunderschöne Woche, weit entfernt von ihren üblichen Pflichten und Sorgen... 

Zwischendurch bemerkt sie immer wieder, wie glücklich die Begegnung mit uns sie mache. Sie habe zwar schon Weiße gesehen, aber noch nie mit ihnen gesprochen. Das sei einfach riesig und sie freue sich sehr. 


Stefan schreibt:

Einige Kinder wurden von ihren Eltern in großen und teuren Geländewagen gebracht und es wurde schnell klar, dass es sich hierbei um Familien aus der Oberschicht handelte. Spätestens dann, als  die Eltern eines Kindes die Ankunft mit Tablet-PC und I-Phone filmten. Meine Mutter und ich begutachteten das ganze Spektakel aus sicherer Entfernung bzw. unterhielten uns mit Mary. Als wir schließlich an den Eltern vorbei schlenderten, fielen mir zwei Männer auf, die Maschinengewehre in der Hand hielten. Für uns ein ziemlich befremdliches Bild, für hiesige Verhältnisse wahrscheinlich  relativ normal. Manchmal kann man sich wirklich glücklich schätzen, in einem so wohl geordneten und sicheren Land wir der BRD zu leben.


In der Dämmerung spazieren wir zu Familie Johnson und schauen, wie weit die Marienstatue gediehen ist. Es wird ein sehr geruhsamer und entspannter Ausklang des Tages (abgesehen von den Heerscharen der Moskitos, die sich mit großer Begeisterung auf uns stürzen. 


Allerdings haben wir uns zu Hause mit Insektenspray für die Tropen eingedeckt, so dass sie meist enttäuscht wieder abschwirren). Zum Klang der Zikaden gesellen sich heute erstmals kleine, blinkende Insekten, „fyer-flys“, wohl die afrikanischen Verwandten unserer Glühwürmchen. Very romantic!


Montag, 20.08.2012

Gabi schreibt:

Heute nimmt der eigentliche Zweck unserer Reise endlich Gestalt an: Sr. Jane organisiert ein Gespräch mit der Generaloberin ihrer Kongregation. In einem sehr offenen Gespräch, bei dem auch zwei ihrer Ratsschwestern anwesend sind, zeigt sie sich von unserem Plan äußerst angetan. Ich bin glücklich. Die letzten Tage in Enugu hatten mich mit großen Zweifeln überzogen: Uns kommen nur noch HorrorStorys zu Ohren: nachdem sich Boko Haram im Moment zurückhaltend verhält, blüht offensichtlich im Südosten Nigerias das Geschäft des Kidnappings und des Straßenraubes wieder auf – vielfach mit tödlichem Ausgang. Die nahezu durchgehende Armut der Menschen, denen wir bei unseren Fahrten durchs Land oder in den Straßen begegnet sind, bedrückt mich sehr und wird es wohl auch in Zukunft tun. Was immer hier an Hilfe angeboten wird, ist ein Tropfen auf einen heißen Stein. Da tat es ausgesprochen gut, Zuspruch zu erfahren und Ermutigung. Die Generaloberin stimmt der Übereignung des Grundstückes an mich zu, jetzt kann die detaillierte Planung losgehen. Bis tief in die Nacht haben Stefan und ich diskutiert und Ideen entwickelt. Es wäre herrlich, wenn ein Teil davon umgesetzt werden könnte!

 

Am Abend erhielt Sr. Jane Frances eine SMS, die ich der geneigten LeserInnenschaft nicht vorenthalten möchte; der Inhalt beweist eine der großen Stärken der Nigerianer: sich über sich selbst lustig zu machen. Außerdem möchte ich den Text in dem hier üblichen Englisch im Original wiedergeben (wer es nicht versteht, bekommt von mir nach meiner Rückkehr eine Übersetzung angeliefert):

In Japan dey invented a machine dat catches thieves: dey took it into 5 different contrys 4 test.

In USA, in 30 mins, it caught 500 thieves; in Spain, in 20 mins, it caught 25 thieves; in Ghana 10 mins, it caught 6.000 thieves; in Uganda in 7 mins it caught 20.000 thieves; in Kenya, in 8 mins it caught 30.000 thieves; but in Nigeria, after 5 mins, the machine was stolen... Gr8 Naija, gud people!


Ich liebe dieses Land, mit all seinen Ecken und Kanten. Wo gelacht wird, ist Stärke und Gelassenheit trotz aller Probleme. 

In diesem Sinne: gud night, BaWü!